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KRAFTWERK – 3D Der Katalog

~ 2017 (Warner Music/Parlophone) ~


Im Wonnemonat Mai schenken KRAFTWERK ihrer Weltanhängerschaft die sogenannten Meisterwerke 12345678 als ´3-D Der Katalog´ im kleinen, medialen Overkill. Dabei handelt es sich nicht um eine Neuauflage der 2009er digital-remasterten, längst ausverkauften Kompilation ´Der Katalog´ dieser acht Alben, die dann anlässlich der 3D-Retrospektive im Museum of Modern Art in 2012 nochmals aufgelegt wurde.

Vielmehr handelt es sich bei ´3-D Der Katalog´ um Neuaufnahmen aus den Jahren 2012 bis 2016, die während der „3-D Auftritte“ in den führenden Kunstmuseen dieser Welt – Museum of Modern Art New York, Kunstsammlung Düsseldorf, Tate Modern London, Akasaka Blitz Tokio, Opera House Sidney, Walt Disney Concert Hall Los Angeles, Burgtheater Wien, Fondation Louis Vuitton Paris, Neue National Galerie Berlin, Paradiso Amsterdam, Konzerthaus Kopenhagen, Horske Opera Oslo und Museo Guggenheim Bilbao – aufgezeichnet wurden. Somit konnte die Band, in der aktuellen Besetzung aus Urmitglied Ralf Hütter sowie Henning Schmitz, Fritz Hilpert und Falk Grieffenhagen, alle ihre klassischen Alben 12345678 in Ton und Bild festhalten – denn von ihrer Frühphase, von allen Werken vor 1974, distanzieren sich KRAFTWERK schon seit Jahrzehnten – und sie chronologisch präsentieren, während das Publikum die üblichen, weiß-gerandeten Papp-3-D-Brillen trug: ´Autobahn´ (1974), ´Radio-Aktivität´ (1975), ´Trans Europa Express´ (1977),´Die Mensch-Maschine´ (1978), ´Computerwelt´ (1981), ´Techno Pop´ (1986), ´The Mix´ (1991) und ´Tour De France´ (2003).

Auf der hier besprochenen Standard-Version „DVD/Blu-ray“ ist vom Publikum kein Ton zu hören und nichts zu sehen, keine 3-D-Brille flackert durchs Bild. Ob es sich um Live-Aufnahmen handelt, ist zudem auf dem Produkt nicht vermerkt, „neue Aufnahmen 2012 – 2016“ ist zu lesen, und nirgends ist ersichtlich, woher jede einzelne Aufnahme stammt. Der Auftrittsort ist nur selten und flüchtig am Rande erkennbar. Die Zuschauer sind fast nie, vereinzelt schemenhaft, mit den Schatten ihrer Köpfe im Bild. Somit ist klar, dass es sich hier um keine herkömmliche Live-Aufnahme handelt, bekanntlich lässt Ralf Hütter auch bei der visuellen Live-Darbietung in 3-D alle Grenzen zwischen Musik und Mensch verschwimmen. Die Songs könnten sämtlich ebenso aus dem Studio stammen, so perfekt sind sie in ihrer aktuellen Version, dort wird ein krautrockender Part gestrichen, hier ein anderer Abschnitt abgewandelt, dargeboten.

Daher wird diese Veröffentlichung von 12345678 insbesondere für Menschen, die sich nur den Audio-Versionen von ´3-D Der Katalog´ widmen, zu einem Hörgenuss in der Art von Remix-Alben. Wer sich, so wie der Rezensent, nicht nur Neuauflagen von althergebrachten Songs, denn mit neuen Songs geizen Ralf Hütter & Co. seit langer Zeit, anhören möchte, wird auf das „Deluxe Blu-ray Box Set“ mit allen acht Alben auf vier Discs und einem 236-Seiten-Hardcover-Kunstbuch, inklusive neuen und bislang unveröffentlichten elektronischen Bildern und Fotos, zurückgreifen müssen.

Bevor KRAFTWERK am 1. Juli 2017 beim »Grand depart« den Start der „Tour de France“ mit einem Open-Air-Konzert in Düsseldorf eröffnen, kann dem leibhaftigen Live-Genuss zumindest etwas mit der Standard-Version „DVD/Blu-ray“ abgeholfen werden, erweist sich diese uneingeschränkt als grandiose Best-Of-Variante, mit den Songs ´Autobahn´, ´Radioaktivität´, ´Trans Europa Express´, ´Die Mensch-Maschine´, ´Computerwelt´, ´Techno Pop´, ´Die Roboter´ und ´Tour De France´.

Die Performance der vier KRAFTWERKler ist gewohnt entmenschlicht. Zu ´Autobahn´ ist allein der entsprechende Anime-Film zusehen, der Kampf zwischen Mercedes und VW Käfer auf bundesdeutschen Autobahnen, mit den amtlichen Kennzeichen D – KR 74 und D – KR 70. Bei der Tonauswahl sind die Herren jedenfalls auf dem neuesten Stand und bieten neben „2.0-PCM-Stereo“ und „Headphone Surround“ obendrein umwerfend „Dolby-Atmos“ an. Die Blu-ray kann im 3-D-Modus als auch in 2-D abgespielt werden.

Ralf Hütter, Henning Schmitz, Fritz Hilpert und Falk Grieffenhagen tauchen bei der ´Autobahn´-Performance derweil nur kurz vor der Leinwand auf. Bei ´Radioaktivität´, wenn die Orte der Strahlenbedrohung – Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield und Fukushima – namentlich explizit erwähnt werden, sind die vier hinter ihren Pulten weit öfters zu sehen, passenderweise andauernd bei ´Die Mensch-Maschine´. Aus der Nähe darf der Mensch hinter seinem Pult zu ´Techno Pop´ erspäht werden.

Der Mensch wird zur Maschine, die Maschine ist der Mensch. Was bleibt ist die Musik. Alle Lieder sind bis heute nicht gealtert, ihr Geist nicht erloschen. KRAFTWERK leben. Die Pioniere des Elektropop, ohne die der gesamte Synth-Pop und die elektronische Musik undenkbar wären, dürfen weiterhin als Propheten ihrer Musik gelten. Music non stop.


Live-Photocredit: Peter Boettcher